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Wir haben das "Valley-of-death" überwunden

29.5.18
Author: Interview mit Matthias Hell, CEO Bozzio Ltd

joysteer, das elektronische Lenksystem zur Fahrzeugbedienung für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen, war ursprünglich ein Spin-Off-Unternehmen der Berner Fachhochschule BFH. Als Inhaberin der Patente von joysteer entwickelt und vermarktet die Bozzio AG individuell angepasste Bedienelemente basierend auf der drive-by-wire Technologie.


Ein schönes Büro habt ihr. Geräumig, mit Terrasse und Blick auf die Zihl. Wann seid ihr eingezogen und weshalb in den Switzerland Innovation Park Biel/Bienne (SIP BB)?
Wir sind Ende 2015 in den SIP BB gezogen. Die Infrastruktur war tatsächlich ein bedeutender Entscheidungsfaktor, aber eher in Bezug wie der SIP BB für unser Unternehmen von Nutzen sein kann: Mechaniklabor, Elektrolabor, 3D-Drucker und der Service für Entwicklungsdienstleistungen – alles unter einem Dach. Und dazu noch ein schönes Büro und sympathische MitarbeiterInnen!

Das heisst, ihr arbeitet mit dem SIP BB oder anderen eingemieteten Unternehmen zusammen?
Ja, das nutzen wir regelmässig. Da wir keine eigenen Konstrukteure haben und eben auch nicht die erwähnte Infrastruktur, nutzen wir die Ressourcen des SIP BB und dessen Mieter.

Kannst du uns ein Beispiel nennen?
Wir mussten ein speziell angefertigtes Bremspedal für ein Auto entwerfen. Ein SIP-BB-Konstrukteur hat dieses gemäss unseren Angaben gezeichnet, damit mit einem 3D-Drucker ein Prototyp aus Kunststoff erstellt werden konnte.  Als das Kunststoffmodel unseren Anforderungen entsprach, gaben wir den Auftrag an einen weiteren Mieter im SIP BB, der auf 3D-Metalldruck spezialisiert ist, das Bremspedal herzustellen. Ohne diese Zusammenarbeit hätten wir dieses Einzelteil nicht umsetzen können.

joysteer ist ein elektronisches Lenksystem. Was bedeutet „drive-by-wire“? 
Das heisst, dass die Lenkung nicht über die Lenksäule übertragen wird, sondern über entsprechende Hardware/Software. Die drive-by-wire Technologie ist ebenfalls die Basis für autonome Fahrzeuge. Dort werden GPS- und Sensordaten an das drive-by-wire System übermittelt, dieses führt dann die Lenkbewegung aus.

joysteer lässt sich kaum wie ein Autoradio bestellen und einbauen. Wer bekommt es, wer entscheidet und wer bezahlt? 
Besteht für eine körperlich beeinträchtigte Person der Wunsch nach Mobilität, muss sie in der Tat einige Prozesse durchlaufen. Je nach Beeinträchtigung stehen entsprechende Bedienelemente zur Verfügung. Zuerst findet eine Evaluation bei einem spezialisierten Fahrlehrer statt, der entscheidet, ob die Person mit diesem System fahren kann. Fällt diese positiv aus, kann ein Antrag beim Kostenträger gestellt werden. Dieser wiederum prüft, welche relevanten Vorteile der Antragsteller daraus ziehen kann – z.B. berufliche und gesellschaftliche Integrität. Wird der Antrag bewilligt, geht’s zum Fahrlehrer. 30 bis 50 Fahrstunden – je nach Behinderungsgrad und abhängig davon, ob die Person bereits im Besitz eines Führerscheins ist – müssen bis zur Fahrprüfung absolviert werden. Dann wird das Auto und das elektronische Lenksystem von joysteer bestellt. Das Auto bezahlt der Antragsteller übrigens selbst. Den Umbau übernimmt der Kostenträger. Unser Händler ist oft das Paraplegiker-Zentrum in Nottwil, der bei uns bestellt und den Einbau vornimmt. 

Du bist 2009 dazugekommen. Wie kam das?
joysteer wurde in der BFH entwickelt und von vier Assistenten betreut. Als das Projekt bereit war, um daraus ein Startup zu gründen und es auf den Markt zu bringen, wurde ich für die Projektleitung angefragt. Ich hatte bereits unternehmerische Erfahrungen und plante schon länger, ein Startup zu realisieren. Zudem war ich überzeugt, dass es nicht allzu schwer sein würde, für ein solch gutes Produkt Gelder zu beschaffen. Da war ich etwas zu optimistisch!

Doch nicht einfach?
Natürlich finden alle das Lenksystem super, aber nur wenige sind bereit, in ein Nischenprodukt zu investieren. Da treffen zwei Welten aufeinander: Die emotionale Welt: Die Menschen sehen, welche Türen unser System körperlich Beeinträchtigten öffnet. Und die Finanzwelt: Die Kapitalgeber, die den Profit – den return on investment – sehen wollen.

Aber du bist erfolgreich
Was heisst erfolgreich für dich? Sagen wir so: Wir haben das sogenannte „Valley-of-death“ durchschritten. Tatsächlich sind wir schon lange und erfolgreich unterwegs und können ohne Fremdfinanzierung aus dem Ertrag unseres Businesses leben. Das können bei weitem nicht alle Startups. Bozzio AG beschäftigt mittlerweile 8 Mitarbeiter, und berücksichtigen wir zusätzlich die Wertschöpfung der Zulieferanten, generieren wir ca. 15 Arbeitsplätze. Auch international ist uns die Markteinführung mit joysteer in Europa, Neuseeland und den USA gelungen.

Wie gestaltet sich der Markt in Amerika?
Da ist ein enormes Potential für uns vorhanden. Die Fachspezialisten, wie Therapeuten, Fahrlehrer und Autoumbauer, zeigen grosses Interesse an joysteer. Aber die Markteinführung braucht Geduld, und wir müssen sehr viele Hürden nehmen beim Einbau, bei der Zulassung, der Finanzierung, der Wartung und beim Unterhalt. Wir sind schon beinahe sechs Jahre dran. Der Betreuungsaufwand für die USA ist deutlich grösser als in Europa.

Müsst ihr getreu der Geschichte mit dem „Hund und der Mikrowelle“ die Produkteinformation den USA anpassen?
Ja, um der Gefahr einer solchen Schadensersatzforderung – wie der berühmte Hund, der zum Trockenen in die Mikrowelle kam, weil ein solches Verbot nicht in der Anleitung stand – nicht ausgesetzt zu werden, haben wir die Produkteinformation angepasst und auch eine entsprechende Versicherung abgeschlossen.

Ein Blick in die Zukunft?
Die Bozzio AG ist schon längst nicht mehr nur im Bereich elektronische Lenksysteme zur Fahrzeugbedienung für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen tätig. Wir entwickeln auch Industrieapplikationen für Sonderfahrzeuge, autonome und unbemannte Fahrzeuge – z.B. für Landwirtschaftsmaschinen, Baumaschinen, Defence, City Fahrzeuge.

Diesen Sommer werden wir in England an einem Pilotprojekt für autonome Fahrzeuge teilnehmen. 

Ganz bestimmt wird Bozzio AG aber nie Hersteller von Massenproduktionen für autonome Fahrzeuge. Die grossen OEM’s werden diese Technologie selber anbieten.

Wird joysteer immer „Swiss made“ bleiben?
Solange ich dabei bin, ganz bestimmt.

 

Joysteer

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